03.05.2020

Brauchen wir einen stärkeren Staat?

„l’état c’est moi,“ oder auch „der Staat, dass bin ich“. So lautet ein wesentliches Schlagwort des Absolutismus welches zumeist Ludwig XIV. zugeschrieben wird. Vor dem Absolutismus haben dieser Tage weite Teile der Gesellschaft eine unbändige und fast schon lähmende Angst. Aber sind diese Sorgen wirklich berechtigt? 

Wir leben noch immer in einem Land, in dem aufgrund einer weltweit grasierenden Seuche diverse Grundrechte vorübergehend beschränkt wurden: 
Es ist vor allem die Freizügigkeit aus Art. 11, die in den letzten Wochen und Monaten eingeschränkt wurde und damit auch diverse andere Grundrechte in Mitleidenschaft zog: Die Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit (Art.11), Schulpflicht (Art. 7) und die persönlichen Freiheitsrechte (Art. 2). Wir sehen an dieser Stelle die ganz praktische Verschränkung von Grundrechten: Ist die Freizügigkeit in der bisherigen Form nicht mehr gegeben, tangiert das automatisch andere Grundrechte. Aber derzeitig von einer „Entrechtung“, oder gar von einem „Polizeistaat“ zu reden, ist eine maßlose Übertreibung: 
1.) Nie wurde bezweifelt, dass die Einschränkung von Grundrechten vorübergehend wäre. Die Bundesregierung muss mit zunehmender Dauer der Einschränkungen erklären, inwieweit die Mittel zur Eindämmung der Seuche noch gerechtfertigt sind. An dieser Stelle funktioniert unsere Demokratie, denn die Medien überschlagen sich mit mehr oder weniger sinnvollen Appellen an die Verantwortlichen. Es gibt keine Denkverbote, ebenso wenig ist zu beobachten, dass kritische Journalisten in die Gefängnisse wandern. 
2.) Nüchtern betrachtet darf zudem bezweifelt werden, dass es sich um schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte handelt. Vielmehr hat sich die Ausübung der Grundrechte in die sozialen Medien verlagert: Hier herrschen weiterhin Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Bildungsrechte und persönliche Freiheitsrechte. Ein Staat, der seine kritischen Bürger entrechtet, verfolgt und wegsperren möchte, suchen wir hier vergeblich.
3.) Der Blick auf andere Länder zeigt, dass die bei uns ergriffenen Maßnahmen verhältnismäßig, besonnen und nachhaltig ergriffen wurden. Niemand wollte Zustände wie in Italien. Durch das enorme Glück einer zeitlichen Versetzung, konnten Kapazitäten kurzfristig ausgebaut werden. Zudem bewirkten die Bilder von Leichenkonvois in Bergamo und überfüllten Intensivstationen in Frankreich und Spanien, dass unsere Bevölkerung in eine regelrechte Schockstarre verfiel und bereits vor dem Lockdown Mitte März freiwillig auf Abstand ging und überflüssige Sozialkontakte einschränkte. 

Auch werden hohe ethische Standards durch die Corona- Krise deutlich: Den Überlegungen des Tübinger Bürgermeisters Boris Palmer zufolge ruinieren wir derzeitig unsere Wirtschaft, um ein paar alte Menschen zu retten, “die in ein paar Monaten ohnehin gestorben wären”. Diese Bewertung menschlichen Lebens ist unserer Gesellschaft im Grunde fremd, was auch den Shitstorm erklärt, den Herr Palmer auf seine Äußerung hin erntete. Der 80-jährige hat denselben verfassungsrechtlich geschützten Wert, wie das kleine Kind und das ist gut so. 
Wir sollten uns zugleich bewusst werden, dass wir zu den wenigen Privilegierten der Weltgeschichte gehören, die bislang nicht erleben mussten, wie Teile der Gesellschaft wissentlich zum Wohle des gesamten Volkes geopfert werden. Die Würde des Menschen aus Artikel 1 des Grundgesetzes beschreibt den unermesslich hohen Wert, den jeder Mensch perse in sich trägt. Folglich verbieten sich jegliche Denkmodelle, Teile der Bevölkerung zum Wohle der anderen zu opfern. 

Diese hohen ethischen Standards auf die wir seit dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges zurückblicken, geraten dieser Tage allerdings aus verschiedenen Gründen in Gefahr, weil der Staat schwächelt: 

Es herrscht ein mangelndes Bewusstsein dafür, dass die aktuell niedrige Zahl der Neuinfizierten auf die Maßnahmen zurückgehen, die vor ca. 2 Wochen in Kraft waren. In wie fern die heutigen Lockerungen sinnvoll sind, werden wir also erst Wochen später am Infektionsgeschehen ablesen können. Dieser kausale Zusammenhang scheint vielen Menschen in Deutschland nicht bewusst zu sein. Einige verkennen diese zeitliche Verzögerung und fordern Lockerungen, da ja die aktuelle Infektionsrate niedrig ist. Das sich mitunter Regierungsvertreter an der Öffnungsdebatte allzu “forsch” beteiligen, stärkt nicht gerade ein Bewusstsein für die absolute Notwendigkeit der Maßnahmen in der Bevölkerung und führt zu weiteren Verunsicherungen.    

Es kann auch nicht sein, dass linke Idioten am 1.Mai Berlin Kreuzberg zur rechtsfreien Zone machen und unter anderem ein Fernsehteam krankenhausreif schlagen. 6 Täter wurden zunächst festgenommen, sind aber wieder auf freiem Fuß… Es ist auch sonst unerträglich, dass Jahr für Jahr bereits am 2.Mai Bilanz gezogen wird und eine gewisse Anzahl abgebrannter Autos, zerschlagener Scheiben und verletzter Einsatzkräfte billigend in Kauf genommen wird. In Corona-Zeiten kommt noch hinzu, dass nicht genehmigte Versammlungen ein gesteigertes Infektionsrisiko darstellen und rechtlich gesehen eigentlich auch die Grundlage einer versuchten Körperverletzung erfüllen. Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes gibt hier den zu schützenden Rahmen vor: Die Rechte des einzelnen enden dort, wo deren Ausübung die Rechte anderer verletzten. Da Demonstranten von nicht genehmigten Versammlungen genau das tun, gefährden sie fahrlässig „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Absatz 2) der anderen. Hier sollte der Staat mit empfindlichen Strafen durchgreifen. Vandalismus, Körperverletzung und Gefährdung von Einsatzkräften sind nicht akzeptabel.  

Um eine Pandemie zu beschränken, braucht es Einschränkungen der Sozialkontakte, was wiederum bedeutet, dass die Wirtschaft nicht zeitgleich, sondern nach und nach hochfahren muss. Gerichtsurteile, die in den Bundesländern dieser sinnvollen, zeitlichen Versetzung (z.B. durch die „800 Quadratmeter“ –Regel) im Bezug auf das Gleichheitsgebot in Art. 3 des Grundgesetzes torpedieren diese epidemiologische Maßnahme und lassen nach der Alternative fragen: Die Wirtschaft ruht, ebenso das öffentliche Leben für die gesamte Zeit des Shutdowns. In dem Fall herrscht absolute Gleichheit nach Art. 3 - aber vermutlich würde auch das die Gemüter nicht beruhigen…     

Hotel- und Gastrobetriebe sind sicher hart getroffen. Das liegt daran, dass sie zu einem ganz wesentlichen Teil als soziale Kontaktflächen dienen, die es schwer haben, nötige Abstände einzuhalten. Nach zahlreichen fetten Jahren dieser Branchen wundern mich die drohenden Appelle nach baldiger Eröffnung: Wer es nicht schafft, trotz staatlicher Hilfe, Kurzarbeitergeld, Stundungen beim Finanzamt, kostenlosen Krediten und aufschieben der Mieten, mal für ein paar Monate über die Runden zu kommen, kann auch vor der Krise (wirtschaftlich gesehen) nicht sonderlich gesund gewesen sein. Ich für meinen Teil kann dieses ständige weinerliche Vorrechnen der Umsatzeinbußen nicht mehr hören- schließlich ist davon fast jedes Unternehmen in Deutschland betroffen- einschließlich des Autors dieses Artikels. Weniger Sekt und mehr Selters wird die wirtschaftliche Folge der Pandemie sein, und das weltweit. Ein Abklingen der Seuche sollte im Interesse aller Wirtschaftsbetriebe liegen. Ein bisschen mehr solidarische Opferbereitschaft mit hoffnungsvollem Blick nach vorne- das wäre eine starke Werbung für Hotels und Gastättenbetriebe, sowie den Tourismus. 

Die „Dämonisierung“ der Virologen und Epidemiologen. Sie gelten im Rahmen der Öffnungsdebatten bereits als Spielverderber. Mittlerweile ranken sich auch schon Weltverschwörungstheorien um diese wissenschaftliche Zunft. In einer vernunfts- und wissenschaftsorientierten Gesellschaft wie der unsrigen, dürfen Morddrohungen, Beschimpfungen und Diffamierungen gegen Wissenschaftler nicht hingenommen werden, denn „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“ (Grundgesetz Art. 5, Absatz 3).Das gilt auch dort, wo gesellschaftliches Wunschdenken nach einer möglichst raschen Widerherstellung des „alten“ Lebens, dem wissenschaftlichen Befund widerspricht. 

Der Begriff “Staat” leitet sich von „Status“ ab. Er soll einen sicheren Rahmen bieten, in dem Menschen freiheitlich leben können. Damit eben diese staatliche Ordnung erhalten bleibt, benötigen wir klare Ansagen, die wir in der Form während der letzten 70 Jahre nicht mehr gehört haben. Das Ungewohnte und Unbequeme kann aber in dieser Situation das einzig richtige sein. Ich wünsche mir klare Kante einer Regierung, der ich vollumfänglich abnehme, Schaden von unserem Land abwenden zu wollen und vom Fundament des Grundgesetzes aus zu handeln. Zugleich hoffe ich auf die Gerichtsbarkeiten- allen voran das Bundesverfassungsgericht. Bei jeglicher Abwägung und Prüfung der Maßnahmen nicht nur auf die oftmals sehr laut schreienden Bürger zu hören. Vielleicht kommt dem Staat künftig eine stärkere Erziehungsaufgabe zugute, solange sich dieser auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt: „Bürger, du irrst- Alles darfst Du nicht!“ könnte im Ergebnis manches Mal eine Rückmeldung der Verfassungsorgane sein. 

In den letzten 70 Jahren haben wir gelernt, die Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat zu erkennen. Gleichzeitig gibt der Staat den schützenden Rahmen vor, im dem wir als Solidargemeinschaft zusammen leben. Daher kann Ruhe, Zurückhaltung, Mäßigung, Verständnis und Respekt in der gegenwärtigen Situation auch dazu dienen, die staatliche Ordnung zu erhalten und den Staat nicht nur als vermeintliches Feindbild zu sehen, der sich gegen seine Bürger erhebt. 

Tim Behrensmeier - 19:07:31 @ Grundgesetz im Gespräch